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May. 18th, 2011 09:21 amM&T: Grigory Sokolov, Sie gelten als Ausnahme unter den grossen Konzertpianisten unserer Zeit, und zwar deshalb, weil Sie mit grosser Ernsthaftigkeit und auch Ehrlichkeit Ihren Beruf ausüben. Sind das Ihre Charakterzüge?
G.S.: Erstens muss ich dazu sagen, dass Musik für mich kein Beruf ist, sondern ein Aspekt des Lebens. Das sagt eigentlich schon genug. Musik ist für mich so natürlich wie Atmen, was ja durch ein unglaublich komplexes System von Nerven, Muskeln bewirkt wird. Wissen Sie, wie Sie es machen? Nein. Aber Sie tun es. Genauso ist es mit der Musik. Das ist Leben.
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M&T: Improvisieren Sie denn auch?
G.S.: Wenn Sie darunter verstehen, dass ich öffentlich zu einem Thema spiele, dann nein. Aber was ich meine, ist, jede Interpretation hat immer beide Seiten: Sie wissen, was passiert, aber ganz genau wissen Sie es eben doch nicht. Improvisation allein ist deshalb für mich ebenfalls unbefriedigend, weil das Fundament, das Gebäude fehlt. Wenn alles zufällig ist, ist das zuwenig. Diese Improvisation, die ich meine, ist eine sehr hohe Stufe der Erarbeitung, eine sehr bewusste Arbeit. Es hat nichts mit Anarchie zu tun.
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M&T: Heisst das, dass Sie sich von anderen Interpretationen nicht beeinflussen lassen? Oder gibt es da einen gewissen Spielraum, dass Sie zum Beispiel einzelne Ideen, Details oder Ansätze in Ihr Spiel übernehmen?
G.S.: Ich habe ein gutes Immunsystem! Wahrscheinlich lässt es sich nicht vermeiden, beeinflusst zu werden. Ein Student sollte deshalb zuerst von sich aus ein Werk erarbeiten und erst dann andere Interpretationen anhören. Das ist zugegebenermassen ein wenig schwierig, weil wir ja eben nicht auf der Insel leben. Aber ich denke, nur so kann man die eigene Persönlichkeit voll in die Musik einbringen.
M&T: Wie war das mit Ihrer Immunität?
G.S.: Es ist wirklich so: Ich kann eine Interpretation anhören und sie auch schön finden, aber dennoch etwas ganz anderes machen.